Ein ehrlicher Bericht über Balkonien
Anspruch vs. Realität
An einem lauen Sommerabend im August saß ich draußen auf meiner Palettenlounge und dachte, es vollbracht zu haben: Ich hatte Bella Balkonia erschaffen.
Der Outdoorteppich strahlte fast, so sauber war er. Die Palletten-Lounge hatte ich perfekt arrangiert, der Schmutz auf den Polstern war frisch weg gereinigt. Kurz überlegte ich, ein Foto bei einem Designer-Hochglanzmagazin einzureichen. Das Bewässerungssystem funktionierte schon seit einer Woche tadellos, das Grün wucherte mehr oder weniger erfolgreich geleitet wie wild um sich herum, die Tupperdosen unter dem undichten Hochbeet fingen zuverlässig jeden Tropfen auf. Die Vögel badeten ausgiebig im liebevoll selbst gebastelten Makramee-Hängebad und bedienten sich anschließend an meiner Snack-Bar. Das Glück war vollkommen. Die Minze wuchs bis zu meinen Oberschenkeln, der Feigenbaum zeigte schon die ersten Fruchtansätze und meine Blaubeeren hatte ich für die kommende Woche fest in meinem Müsli verplant.
Ich frage mich immer noch, wie sie nur fünf Tage später einen trockenen, braunen Tod sterben konnten.
Das Eingehen der der Blaubeere markierte den Anfang vom Ende, an dem ich mich unweigerlich fragen musste, ob all das eine Illusion gewesen war.
Die Blattlaus-Invasion zog gemeinsam mit der Ameisen-Allianz gegen mich in den Krieg. Tausende Lebenwesen gegen ein einziges. Da braucht man eigentlich nur eins und eins zusammenzählen um zu realisieren, dass das nicht gut gehen kann. Hinzu kam der Luftangriff von oben. Ich ahnte schon: Den Kampf gegen den Taubendreck würde auch eine Atrappen-Krähe nicht gewinnen können.
Ich seufzte und las die Anweisungen meiner zweiten neu gekauften Blaubeere: Mindestens 10-20 Liter Erde. Ja was denn jetzt: 10 oder 20? Ich überlegte kurz, ob mein Litermaß mir hierbei behilflich sein würde. Schnell verwarf ich den Gedanken wieder. Ich fand mich also das Internet durchforstend auf der Suche nach Rat auf mortal balkonia vor dem Laptop wieder. Die Sonne knallte auf den Bildschirm und brannte mir auf den Kopf. Mit der Helligkeit bis zum Anschlag versuchte ich blinzelnd etwas zu erkennen. Ich frage mich heute noch, wie das jemand schön finden kann. Wer hat eigentlich gesagt, dass man Home-Office auf dem Balkon machen kann?! Da hat sich wohl offensichtlich noch nie jemand bei 50 Grad und greller Sonne mit dem Schweiß kämpfend, nach draußen gesetzt und versucht zu arbeiten. Naja. Nach 125 offenen Tabs und einem kurzen Instagram-Reel Ausflug (angefangen ursprünglich mit der Pflege von Blaubeeren über Blaubeer-Rezepte, Hunde-Erziehungstipps bis letzendlich hin zu Yoga-Übungen) schreckte ich 3 Stunden später von meiner digitalen Reise auf. Ich hatte doch eigentlich nur die Menge an Erde für meine Blaubeere ermitteln wollen. Ich ermahnte mich innerlich und fand mich kurz darauf mit einer Antwort auf Google wieder: 25 Zentimeter Druchmesser sollte der Topf für den Strauch mindestens haben. Ich holte ein Lineal und maß nach: So breit war der Kübel nicht.
Ich schweifte mit den Gedanken ab und versuchte zu ergründen, wie ich eigentlich in dieser Situation hier landen konnte. Man hört ja überall: Die Gedanken erschaffen die Realität. Ich war ja früher schon in der StudiVZ-Gruppe: “Brauche großen Balkon, damit ich zum Volk sprechen kann.” Eigentlich nur zum Spaß. Ich hätte zu dem Zeitpunkt im Leben nicht daran gedacht, wie nahe ich damals mit diesem Scherz an der Realität dran war. Nur hatte ich damals an Menschmassen vor meinem Balkon gedacht und nicht vor den Bildschirmen. In meinem Kopf sah ich wehende Fahnen, jubelnde Zurufe und tosende Begeisterungsstürme. Heute sehe ich auf die triste Fassade des Nachbarhauses, das dröhnende Getöse kommt von der Straßenbahn und die Fanfaren der Trompeten sind hupende Autos mit dem gelegentlichen Ertönen des Martinshorns. Es ist alles irgendwie wahr geworden. Irgendwie. Nur anders. So ist das halt im Leben. Es kommt immer anders, als man denkt.
Ich schweifte weiter. Balkonien. Ich frage mich wirklich ob das nicht ein Begriff maßloser Überschätzung ist. Denn die Hochglanzmagazine, Instagram und Pinterest suggerieren einem: „Erschaffe dir dein Paradies!“ und „Es ist so einfach!“. Begleitet sind diese Beiträge von bunten, schillernden Bildern. Die Blumen sind alle gesund und blühen. Gemütlich sitzen Menschen auf ihren Rattan-Lounges, prosten sich mit einem Glas Aperol Spritz zu und lachen. In der Realität sind es bei mir die Blattläuse, die lachen. Und ich weiß mittlerweile auch, dass diese Blümchen extra ganz frisch gekauft sein müssen und nur für das Foto herhalten mussten. Das schafft doch kein Mensch die länger als 5 Tage am Stück in Balkonkästen am Leben zu halten.
Aussagen wie “Urlaub auf Balkonien” “Hüpf rein ins Glück auf Balkongo” “Wilkommen in Sofambik” und Co ließen mich glauben, ich könnte mir mein Urlaubsbudget einsparen. Voller freudiger Erwartungen ließ ich mich auf diesen Deal ein. Das wollte ich ausprobieren. Damals wusste ich noch nicht, dass man ein kleines Vermögen für Hochbeete, Erde und Pflanzen ausgeben soll. Die Balkon-Instagram Bilder von wunderschönen Hängematten auf dem Balkon ließen mich jedenfalls von meinem Balkon-Traum ganz schnell erwachen als ich versuchte, die Hängematte von Balkongeländer zu Balkongeländer zu spannen.
In der heutigen Zeit soll laut dem Internet ein Balkon das Artensterben verhindern, die Energiewende voranbringen und den Traum eines Outdoor-Wohnzimmer-Paradieses erfüllen. Ich frage mich ernsthaft wie man diese eierlegende Wollmichsau hinbekommen könnte ohne am Ende vollkommen desillusioniert und bettelarm dastehen zu müssen. Aber – Hey! Es gibt ja immerhin auch essbare Blumen! Das dürfte ja wohl vollkommen ausreichen. Minimalismus ist eh im Trend. Und dann muss man sich auch nicht zu Tode pädagogisieren lassen man würde den Bienenmord unterstützen weil man Geranien anpflanzt. Dass man dabei auf 2 Quadratmetern mit einem 70 Liter Sack Erde rumhantieren muss, nur um anschließend die Erde wieder fein säuberlich vom Outdoor-Teppich zu kratzen, das erzählt einem aber keiner. Nein. Man sieht nur das tolle Endergebnis. Aber immerhin kann man dann hinterher behaupten, dem Artensterben entgegen gewirkt zu haben.
Im Laufe der kommenden Jahre machte ich die Erfahrung, dass nicht das Ergebnis das Ziel ist sondern der Weg dahin. Und dass man sich diesen Weg zum Ziel nur mit einer bestimmten Währung erkaufen kann. Die heißt Erfahrung. Ich erfuhr, dass diese Währung einem keiner schenken kann. Und dass sie ziemlich wertvoll ist. Für eine kleines Stück Weg vorwärts muss man nämlich mit 5 Misserfolgen zahlen. Ziemlich teuer. Aber was einem auch keiner erzählt: Ziemlich erfüllend.
Kann man darauf verzichten zu erfahren, dass die falschen Outdoor-Teppiche tagelang Wasser speichern können? Dass Schnecken jetzt nicht unbedingt die Art von Natur ist, die man sich auf Bella Balkonia wünscht? Dass Erdbeeren und Äpfel zwar rot aussehen können aber deswegen noch lange nicht reif sind? Dass die richtige Gießmenge zu ermitteln ungefähr so kompliziert ist wie das Ergründen der Atomphysik?
Ja.
Kommt man dann zu dem hier?